Da ich mit einem Kooperationspartner gerade eine Fortbildungsreihe zum Thema pädagogische Fallarbeit für Lehrkräfte plane, liegt nichts näher, als dass mein erster Blogbeitrag im Bereich Pädagogik von diesem Thema handelt.
Pädagogische Fallarbeit – Was ist das genau?
Als ich an der Einführung für meine Fortbildung saß, überlegte ich vor allem, wann Pädagog*innen eigentlich Fallarbeit betreiben. Täglich? Nur in schwierigen Momenten? Wenn sie sich über längere Zeit mit bestimmten Kindern beschäftigen? Klar ist erstmal, dass die tägliche Arbeit mit Kindern keine Fallarbeit ist. Der Aufbau von Beziehungen, die Unterstützung bei kleineren Konflikten, das Beantworten aller wichtigen und unwichtigen Fragen – dabei arbeitet man mit Kindern und nicht mit Fällen. Doch wenn die Auseinandersetzung mit einem Kind plötzlich über das hinausgeht, was einfach so geschieht, wenn herausforderndes Verhalten in Form von Verweigerung, Rückzug bis hin zur Aggression beobachtet wird, wenn man sich mit Kollegen darüber austauscht, wie man an das bestimmte Kind „rankommt“, dann wird das Kind zu einem Fall.
Plötzlich wird sich nähergehend mit dem Fall beschäftigt. Aber wie? Meiner Erfahrung nach gibt es hier unzählige Methoden, die Pädagog*innen anwenden, um „den Fall zu lösen“. Ich habe Lehrkräfte gesehen, die sofort versuchen, durch disziplinarische Maßnahmen „Herr der Lage“ zu werden. Ganz frei nach dem Motto „Wenn du dich nicht so verhältst, wie ich das möchte, dann wirst du die Konsequenzen spüren.“ Genau so habe ich erlebt, dass Lehrkräfte ganz schnell die Jugendhilfe an der Schule oder auch Schulpsychologen mit einbeziehen, „damit dieses Verhalten aufhört.“ Ich glaube an dieser Stelle kann man sich denken, dass das meiner Meinung nach nicht die ideale Art ist, mit der Situation umzugehen. Im Sinne des Kindes wird so mit Sicherheit nicht gehandelt. Es sei jedoch gesagt, dass ich die Lehrkräfte, die so handeln, in gewisser Weise verstehen kann – bzw. verstehen kann, wie es dazu kommt. Zunächst haben Lehrkräfte der weiterführenden Schulen in ihrem Studium tatsächlich kaum pädagogische Methoden vermittelt bekommen, sondern eben die Didaktik. Lehrer*innen sind keine Sozialpädagogen, weshalb es ja sinnvoll ist, beispielsweise mit Schulsozialarbeitern und auch Schulpsychologen zu kooperieren. Dazu kommt der enorme Druck, unter dem sie häufig stehen. Selbst wenn sie es wollen, haben sie kaum die Kapazitäten, um sich so mit den Fällen zu beschäftigen, wie es die Kinder, die hinter den Fällen stecken, verdient haben.
Wie kann also eine „gute“ Fallarbeit aussehen? Grundsätzlich denke ich oft, dass zu viel Akteneinsicht eher nachteilig sein kann, weil man sich selbst die Möglichkeit nimmt, Kinder vollkommen offen und vorurteilsfrei kennenzulernen. Aber wenn man es tatsächlich mit einem Kind zu tun hat, das aktuell offensichtlich Schwierigkeiten hat, dann sollte der erste Schritt sein, so viele Informationen wie möglich über das Kind einzuholen – und dafür dient beispielsweise die Akte. Dabei ist unbedingt darauf zu achten, dass beispielsweise geschiedene Eltern mit Sicherheit immer einen gewissen Einfluss auf die Sozialisierung eines Kindes haben, dass man jedoch von einer solchen familiären Situation niemals automatisch auf bestimmte Symptome schließen kann. Dennoch ist es für die Fallarbeit unumgänglich, sich ein ausgiebiges Bild von der Geschichte und den Umständen des Kindes zu machen. Warum? Besonders wenn sich das Verhalten des Kindes offensichtlich verändert, muss es für diese Veränderung einen Grund geben. Und auch wenn man ein Kind direkt als auffällig kennenlernt, muss man sich bewusst machen, dass kein Kind einfach aus Spaß „schwierig“ wird. Sabine Ader schrieb 2001, dass aus Kindern in schwierigen Situationen leicht schwierige Kinder werden[1] und ich finde das ganz besonders treffend. Ich denke notwendig für eine gute Fallarbeit ist also zunächst die professionelle Haltung der Personen, die an dem Fall arbeiten und die Sensibilität dafür, dass Kinder IMMER Gründe für ihr Verhalten zeigen.
Mit Sicherheit hat jede*r Pädagog*in schonmal den Satz gehört oder gesagt: „Das macht der doch nur, weil er Aufmerksamkeit braucht.“ Ich habe tatsächlich schon Schülerinnen sagen hören, dass sich eine Mitschülerin nur selbst verletzt, weil sie Aufmerksamkeit braucht. Nach meinem Empfinden mag das der Wahrheit entsprechen, jedoch ist dieser gezogene Schluss niemals das Ende einer Fallarbeit, sondern der Anfang. Warum braucht das Kind denn Aufmerksamkeit? Wo fehlt sie? Und: Wie können wir diese Aufmerksamkeit auf positive Weise gewährleisten? In einer pädagogischen Konferenz, die wegen eines Schülers einberufen wurde, sagte sein Klassenlehrer ebenfalls, dass er Aufmerksamkeit brauche, ich schlug vor, ihm diese auch zu geben und bekam die Antwort: „Ich lasse ihn schon immer Kreide holen und sowas.“ Ich glaube ich muss nicht erwähnen, dass das nicht unbedingt die Aufmerksamkeit ist, die Kinder brauchen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Fallarbeit nur dann gelingen kann, wenn die Beteiligten Pädagog*innen den uneingeschränkten Willen haben, zu VERSTEHEN, warum das Kind zu einem Fall geworden ist. Denn wer die Ursachen nicht kennt, wird an den Symptomen nichts ändern können. Wenn durch die Aktendurchsicht, Gespräche mit dem Kind selbst, Gespräche mit den Eltern und vielleicht auch anderen Einrichtungen und Institutionen ein Verständnis dafür herrscht, wie sich die aktuelle Situation gestaltet, dann gilt es mit einem hohen Maß an Empathie herauszufinden welche Faktoren dem Kind solche Schwierigkeiten machen und warum. Denn wie gesagt, dieselben Verhältnisse können bei verschiedenen Kindern auch vollkommen verschieden verarbeitet werden. Grundsätzlich kann man sagen, dass die meisten tiefen Gefühle, die ein Kind, das als verhaltensauffällig beschrieben wird, zeigt, auf Angst basieren. Angst vor Verlust, Angst nicht geliebt zu werden, Angst vor Veränderung, Angst ausgegrenzt zu werden, usw. Wer sich also ganz ausführlich mit der Geschichte eines Kindes beschäftigt hat und dann seine Situation und die daraus resultierenden Gefühle kennt, der wird es höchstwahrscheinlich leicht haben mit dem Kind zu arbeiten, weil es leicht ist, sich in das Kind hineinzuversetzen. Denn seien wir ehrlich – wir Erwachsenen haben all diese Gefühle auch schon erlebt und können sie bestens nachvollziehen 🙂
[1] Ader, S. 2001: Wie aus Kindern in Schwierigkeiten „schwierige Fälle“ werden – über Fallverstehen, Falldynamik und Fallstricke in der Jugendhilfe; in: Institut für Soziale Arbeit (Hrsg.): ISA-Jahrbuch zur Sozialen Arbeit 2001, S.111-127, Münster
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